EMDR – Schmerz
Behandlung bei chronischem Schmerz und Einsatzmöglichkeiten bei Athleten
Prof. Dr. med. Jonas Tesarz
"Aus evolutionsbiologischer Perspektive hat das Phänomen „Schmerz“ als Ausdruck einer Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eine existentielle Bedeutung für das Überleben des Einzelnen. In diesem Sinne ist Schmerz in erster Linie eine Abwehrreaktion des Körpers auf eine potenzielle Bedrohung (Nesse 2001). Damit unterscheidet er sich von anderen körperlichen Symptomen wie der Gelbsucht bei Lebererkrankungen oder der Atemnot bei Herzinsuffizienz, die Ausdruck der Erkrankung selbst sind.
Die Schmerzempfindung fungiert als Alarmsystem, das genau dann anschlägt, wenn ein individuelles Bedrohungspotenzial überschritten wird. Schmerz hat somit eine wichtige Überlebensfunktion (Walters and Williams 2019). Die Signale, welche das Gehirn hierbei über die rezeptiven Nervenfasern aus Gelenken, Muskeln, Faszien und anderen Gewebestrukturen bekommt, spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind bei weitem aber nicht ausreichend, die Komplexität der Schmerzempfindung zu erklären. Würde das Gehirn den Bedrohungsgehalt eines Reizes allein aus den Signalen der peripheren Nozizeptoren berechnen und eins zu eins in Schmerz „umrechnen“, blieben wichtige Aspekte unberücksichtigt (Tesarz 2019).
Ein einseitiger Schwerpunkt der Schmerzmedizin auf der Identifizierung von Organpathologien würde die zugrunde liegenden neurophysiologischen und biopsychosozialen Faktoren ignorieren, die zu Schmerz und Schmerzchronifizierung beitragen. Die Forschung zeigt inzwischen, dass der Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen des Bewegungsapparates und chronischen Schmerzen nur schwach ausgeprägt ist (Brinjikji et al., 2015; Pappas et al., 2016). Viele so genannte „Organpathologien“ verursachen nicht notwendigerweise Schmerzen und können von selbst wieder verschwinden, während strukturelle Veränderungen auch ohne Schmerzen auftreten können (Tesarz et al., 2019). Chronische Schmerzen werden daher häufig durch Veränderungen im Nervensystem und nicht durch strukturelle Veränderungen verursacht. Dieses veränderte Verständnis von der Pathologie chronischer Schmerzen beruht auf drei wichtigen Beobachtungen:
1) Strukturelle Veränderungen können anfänglich Schmerzen auslösen, müssen aber nicht zwangsläufig zu chronischen Schmerzen führen. Beispielsweise haben viele Sportler strukturelle Veränderungen, sind aber schmerzfrei (Pappas et al., 2016)
2.) wenn der Schmerz lange genug andauert, kann dieser selbst durch Neuroplastizität pathologische Veränderungen im Nervensystem hervorrufen
3.) diese neuroplastischen Veränderungen können wesentlich dazu beitragen, dass der Schmerz sich selbst erhält und chronisch wird (Cohen et al., 2021). Solche neuroplastischen Prozesse spielen bei den meisten chronischen Schmerzzuständen eine zentrale Rolle und erschweren die Behandlungsbemühungen.
Ein Phänomen, das heute häufig mit dem Begriff des Schmerzgedächtnisses beschrieben wird. Chronischer, unkontrollierbarer Schmerz kann bei den Betroffenen eigene Spuren hinterlassen: Während ein kleiner Eingriff für jemanden, der nur positive Erfahrungen beim Zahnarzt gemacht hat, kein großes Ereignis darstellt, kann derselbe Eingriff bei jemandem, der schon viele frustrierende und schmerzhafte Eingriffe erlebt hat, große Angst und Qualen auslösen. Die Bewertung des aktuellen Kontextes hängt nicht nur von den aktuellen Wahrnehmungen und den damit verbundenen kognitiven und affektiven Prozessen ab. Vielmehr wird sie auch maßgeblich von früheren Erfahrungen und Erinnerungen an den entsprechenden Kontext geprägt (Tesarz 2019). Der Einsatz der Methode in der Behandlung chronischer Schmerzen bei Athleten konzentriert sich auf genau diese Punkte...."
Quelle: https://sportaerztezeitung.com/rubriken/therapie/13429/emdr-schmerz/